- Zusatzmaterial
„Geist & Prozess“ im Gremium
Wann macht es Sinn, nach „Geist und Prozess“ zu arbeiten?
Von Isabel Hartmann und Reiner Knieling
„Geist und Prozess“ ist ein ganzheitlicher Weg, der die Kultur im Blick hat, in der wir miteinander leben und arbeiten. Wir fragen nicht: Was können Gremien beschließen, damit andere die Beschlüsse in kulturellen Veränderungen umsetzen sollen? Oder welche Methoden sind anzuwenden, dass sich die gewünschten Effekte einstellen?
Wir fragen: Wie kann die Kultur in Vorständen, Leitungsteams, Gremien so verändert werden, dass sie einen heilsamen Wandel und gute Lösungen für die Zukunft unterstützt? Und die Erfahrung ist: So viel ist gar nicht nötig. Kleine Änderungen haben manchmal große Wirkungen. Und Menschen sind dankbar und arbeiten umso lieber mit. „Wie können die Kraftquellen des Glaubens und das gemeinsame Arbeiten in Gremien und Planungsgruppen zusammenkommen?“ Diese Frage hat in den vergangenen Jahren viele Menschen angesprochen. Und wir haben zahlreiche Prozesse dazu gestaltet und begleitet, in denen immer Raum war für die je unterschiedliche Spiritualität der verschiedenen Akteurinnen und Akteure.
Diese Art der Prozessgestaltung bewährte sich vor allem in Herausforderungen komplexer Natur, in denen die bekannten und bewährten Methoden der Steuerung zu kurz greifen. Für alles andere sind die bewährten Instrumente hilfreich und gut. Und vieles braucht es keine aufwendigen Bemühungen oder Zeitbudgets, es kann einfach gelöst werden. Vertraute Instrumente helfen aber nur begrenzt, wenn wir Neuland betreten, unsicheres Terrain, unbekanntes Gebiet. Und davon gibt es gerade eine ganze Menge. Man gewinnt keine neue Lösung, indem man nur analysiert, evaluiert und die bewährten Modelle der Vergangenheit anwendet und in die Zukunft fortschreibt. Lösungen entstehen hier auf anderen Wegen.
Wenn die Zukunft offen ist und Menschen, Atmosphären und unkontrollierbare Faktoren komplex aufeinander wirken, kommt es darauf an, mit den Beteiligten einen gemeinsamen Sinn für das auszubilden, was gegenwärtig wirkt und zukünftig Gestalt gewinnen will.
Das braucht auch andere Bedingungen, z.B. einen Vertrauensraum, in dem eine Gruppe schöpferisch sein kann. Wie kann das gelingen?
Wir skizzieren ein paar Hilfen und konkrete Schritte. Nehmen Sie sie als Unterstützung Ihrer eigenen Offenheit und Neugier. Dafür sind sie gedacht. Nicht als Rezepte mit Geling-Garantie. Nicht als Norm, sondern getragen von den Haltungen der Menschen, die beteiligt sind.
Zum theologischen Hintergrund: Kopf, Herz und offene Hände
All die hier beschriebenen Tools dienen dazu, dass die Gespräche ganzheitlicher und damit schöpferischer werden: Dass die verschiedenen Dimensionen, die alle zu uns gehören, einbezogen werden. Dazu gehört, was der Kopf braucht (alle notwendigen Informationen als Grundlage für eine Entscheidung, Daten und Fakten etc.) und was uns durch den Kopf geht.
Dazu gehört aber auch, was uns und die Betroffenen im Herzen bewegt (Gefühle, Stimmungen, Atmosphärisches). Nach biblischem Verständnis ist dort der Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden und die verschiedenen Informationen zusammenlaufen: Vernünftige Argumente und Gefühle und Eindrücke, die man gar nicht so genau in Worte fassen kann. In Herzen werden die Informationen gesammelt, abgewogen, gewissenhaft geprüft (biblisch ist das Herz auch Sitz des Gewissens) und zur Entscheidung gebracht. Im Herzen spüren wir auch, wenn noch etwas fehlt, nicht einbezogen wurde, damit eine Entscheidung auf guten Füßen stehen kann. Und im Herzen können wir außerdem spüren und integrieren, was andere bewegt. Überhaupt ist das biblische Menschenverständnis sehr ganzheitlich. Vernünftige Argument sind richtig wertvoll. Aber sie werden nicht isoliert, sondern verbunden mit dem, was unser Herz, unser Körper weiß.
Es ist schon viel gewonnen, wenn in Gesprächen Zeit ist, dass sich Kopf und Herz der Beteiligten besser synchronisieren können. Um das zu verdeutlichen, zeichnen wir einen Kopf und ein Herz auf ein Flipchart und ergänzen offene Hände: Denn das ist die Haltung, zu der wir einladen: All das, was machbar scheint, aber in der jetzt zu besprechenden Frage nicht weiterhilft, mal aus der Hand zu legen; loszulassen – jedenfalls für dieses Gespräch; und die Hände zu öffnen für das, was uns geschenkt werden könnte. Was wir von Gott her, aus der göttlichen, schöpferischen Quelle empfangen könnten.
Wir werden ja als ganze Menschen, mit „Haut und Haaren“, nicht nur mit unserer Vernunft, sondern als Menschen mit einem Körper als „Tempel des Heiligen Geistes“ verstanden (1. Kor 3,16). Gott wohnt in uns als lebensschaffender Geist. Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist (Röm 5,5). Was ausgegossen ist, versickert und durchdringt uns. „Gott in uns“, „Christus in uns“ und „wir in Gott“, „wir in Christus“ sind zentral bei Johannes und Paulus. Gott verbindet sich mit uns und durchdringt alles Menschliche. Das heißt nicht, dass alles gerechtfertigt ist, was wir tun. Aber es heißt, dass wir überall etwas Göttliches entdecken könnten, in uns, in anderen, in unserem Miteinander, auch in Sitzungen.
Dieses Verständnis prägt die konkreten Schritte, die hier beschrieben werden.
Mehr zur Theologie und zur Unterscheidung der Geister finden Sie in dem Buch von Isabel Hartmann und Reiner Knieling in Kapitel 3 und 6: Hoffnung. Zukunft. Kirche? Eine Vision für unser Miteinander. Neukirchener Verlag, 2. Auflage 2025.
Und hier: Artikel von Isabel Hartmann: Geistoffenheit und Prozessprofessionalität – Wie geht das zusammen?

Konkrete Schritte: Auf die Stimmen des Herzens hören zu einem Tagesordnungspunkt
1. Auf die Stimmen meines Herzens hören
Einstieg mit 3-5 Minuten Stille: Alle im Gremium oder Team nehmen sich Zeit, auf ihre jeweiligen Stimmen des Herzens zu hören, die sich zu diesem TOP (Problem/Frage/Thema) melden.
Mögliche Anmoderation der Stille: Ich lasse den TOP mit seinen wichtigen Facetten auf mich wirken (betroffene Menschen, Orte, Stimmungen, Atmosphären, offene Fragen…). Ich nehme wahr, wie es mir damit geht. Was löst das Thema/das Problem in mir aus? Alles, was ich empfinde, schaue ich wertschätzend an: Es ist wichtig, es gehört zu mir und meiner Perspektive auf das Thema/das Problem.
Abschluss mit Klang und/oder einer Gebetsbitte:
Gebet: „Gott, du bist bei uns in diesem Raum, wir sind da mit all unseren Gedanken und Gefühlen zu unserem Thema/Problem, du schaust auf uns und das Thema/das Problem mit liebevollem Blick. Wir öffnen uns für deine Sicht und deinen Geist in unserem Gespräch. Amen.“
2. Einander mit dem Herzen zuhören
Anmoderation der Gesprächsphase: Wir „leihen“ einander unser Herz beim Zuhören. Das bedeutet: Wir versetzen uns in das Erleben der anderen hinein und lasse uns davon betreffen, bzw. berühren. Wir versuchen zu erspüren, wie die erzählende Person zu ihren Einschätzungen kommt. Dabei bleiben wir nicht externe Beobachter, sondern tauchen selbst ein, indem wir mit dem Herzen wahrnehmen und besonders auf die Gefühle achten. Wir achten auf die Resonanz, die das Erzählte in uns hervorruft. Nachdem die erzählende Person ausgeredet hat, sagen die anderen beiden, was sie gespürt haben. „Wenn ich mit dir mit-spüre, empfinde ich …“
Ganz wichtig: Sie bleiben bei der Wahrnehmung des Problems, sie bewerten es nicht und steigen nicht in die Lösungssuche ein! Alles Persönliche, was in der 3er-Gruppe geäußert wurde, bleibt vertraulich.
Durchführung: Das Gremium teilt sich auf in 3er-Gruppen. Jeweils 3 Menschen setzen sich in Kleingruppen (ohne Tisch zwischen sich) zusammen und hören in folgender Abfolge aufeinander: Eine Person beginnt und formuliert ihre Sicht auf das Thema/Problem. Die anderen hören mit ihrem Herzen zu und formulieren im Anschluss, was sie während der Erzählung gespürt haben und welche Resonanzen das in ihrem Herzen auslöste. Dann kommt der/die Nächste … (je Durchgang: ca. 7 Min., insgesamt also ca. 20 Min.)
3. Entdeckungen im Plenum teilen
Alle kommen wieder zusammen und hören aufeinander.
Einstieg mit 3 Minuten Stille: Jede/r hört in sich hinein: Wie hat sich meine Sicht auf das angesprochene Thema/Problem verändert? Oder: Wie denke ich jetzt über das Problem? Sind neue Fragen aufgetaucht? Dabei besteht die Möglichkeit, Stichworte zu notieren.
Anschließend eine Austauschrunde im Plenum des Gremiums: Was habe ich entdeckt? Wie hat sich meine Sicht auf den TOP verändert?
Nachdem sich alle einmal geäußert haben, können die Beratungen im Anschluss wie gewohnt fortgesetzt werden. Oder es schließt sich ein schöpferischer Dialog an (vgl. unten „Vereinbarungen und Haltungen in Kreis und schöpferische Dialoge“).
Weitere Übungen
[in Anlehnung an: Hartmann/Knieling: Hoffnung. Zukunft. Kirche? Eine Vision für unser Miteinander. Neukirchener Verlag, 2. Auflage 2025, S. 142-152. Dort auch weiterführende Hinweise und Literaturangaben]
Drei Minuten Stille
„Drei Minuten Stille“ ist eine kleine Methode, aber ziemlich wirksam. Ein Team oder ein Gremium unterbricht in der Beratung den Redefluss und legt eine bewusste Pause ein, in der nicht gesprochen wird. Diese Unterbrechung gibt den Einzelnen die Chance, inne zu halten und den Blick nach innen zu richten, auf Gedanken und Resonanzen, die das Gespräch in ihnen ausgelöst hat und welche Gedanken ihnen jetzt in diesem Moment der Stille kommen. Während der Beratungen sind die Gedanken ja meistens auf die Gesprächsbeiträge der anderen gerichtet und wie man darauf reagieren bzw. wie man die Diskussion voranbringen möchte. Jemand sagte: „Diese Stille, die brauche ich so dringend. Ich bin beim Zuhören ja meistens schon damit beschäftigt zu überlegen, was ich antworten möchte.“ Parallel dazu gibt es oft wenig Kapazität, auch noch wahrzunehmen, welche weiteren noch nicht beachteten Aspekte es im Gesagten gibt und erst recht nicht, welche Gefühle mit dem Besprochenen verbunden sind und mitlaufen. Dafür schafft die Stille Raum. Die Teilnehmenden haben Zeit, sich zu fragen: Was geht mir noch nach? Welche Aspekte fallen mir noch ein, die noch nicht gesehen wurden? Welche leisen Stimmen sind noch in mir? Gerade die leisen Stimmen werden leicht übersehen, wenn ihnen keine Chance eingeräumt wird, sich zu Wort zu melden und wahrgenommen zu werden. Die Stille ist ein Zwischenraum, in dem nichts passieren muss. Und sie wird unterschiedlich genutzt. Die einen notieren sich ein paar Gedanken, die anderen schließen die Augen und lassen die Gedanken weiterlaufen, einige nehmen wahr, welche Körperempfindungen sich in ihnen melden. Einigen gibt die Stille die Möglichkeit, erst einmal tief durchzuatmen, sich zu strecken, um eine Verspannung im Rücken zu lösen, um dann wieder wacher präsent sein zu können.
Die Stille öffnet die Möglichkeit, bewusst vom Aktivmodus zurückzutreten und sich zu öffnen, um etwas zu empfangen (einen Gedanken, eine Einsicht, ein Bild, eine Empfindung). Auch von göttlicher Quelle, von der Geistgegenwart her kann uns etwas zukommen, untergemischt in allem, was wir wahrnehmen. Das kann natürlich auch im Aktiv-Sein, im Reden und Hören geschehen. Es ist allerdings leichter, darauf aufmerksam zu werden, wenn ab und an eine Unterbrechung ausdrücklich „eingebaut“ wird und sich alle auf das Hin-Hören ausrichten. Auch der Austausch in der Gruppe wird von dieser Lücke, in der wir etwas empfangen können, profitieren, v.a. je mehr eine Gruppe mit diesem Element vertraut ist. Die jüdisch-christliche Brückenbauerin Edith Stein (1891-1942) formuliert es so: „Stille ist ein Schweigen, das dem Menschen Augen und Ohren öffnet für eine andere Welt.“
Zum Praktischen: Die Stille kann unterschiedliche Längen haben. Manchmal hilft schon eine Minute, manchmal auch mehrere Minuten. Entscheidend ist, dass die Länge den Einzelnen dient und sie die Stille gut aushalten können, ohne sich unwohl zu fühlen oder sich abzulenken und z.B. das Smartphone zur Hand zu nehmen.
Besonders, wenn eine Gruppe dieses Element nicht kennt, braucht es eine Hinführung durch die Gesprächsleitung. Was passiert jetzt? Wofür ist diese Stille gedacht? Alle sollten erfahren, welche Idee dahintersteckt und warum die Leitung diesen Schritt vorschlägt. Ein Kollege formuliert es manchmal so: „Wir sind soziale Wesen. Wir leben in Beziehungen. Und deshalb braucht es manchmal Zeit und Raum, dem nachzugehen: Wir gehen jetzt in Resonanz mit uns selbst und mit der Gruppe. Ich lade Sie ein, sich dabei überraschen zu lassen.“
Wenn transparent ist, was in den nächsten Minuten geschieht, lassen sich die meisten Menschen bereitwillig auf einen neuen, ungewohnten Schritt ein.
Die Stille wird geschützt von einem Klang zu Anfang und zum Ende. Ein Klingen oder ein Ton ist hilfreich, um die andere Art und Weise zu markieren, in der die Gruppe jetzt zusammen ist. Man kann eine Klangschale verwenden oder einen passenden Ton/Melodie vom Smartphone. Und wenn gar nichts vorhanden ist, schlägt man Wassergläser an, die meistens auf dem Sitzungstisch bereitstehen. Für Gruppen, die im Singen geübt sind, kann auch eine Liedzeile sehr hilfreich sein, „Schweige und höre …“ z.B. oder nur ein Summen einer bekannten Melodie, in die die meisten einfallen können.
Hier noch ein Überblick über Situationen, in denen eine Stille sinnvoll sein kann:
Vor Gesprächen,
- die Fragestellungen im komplexen Gelände erkunden,
- die die tieferen Dimensionen (Herz, Gefühle, innere Regungen) bewusst einbeziehen,
- die als schöpferischer Dialog angelegt sind (s.u.).
In Gesprächen,
- wenn sich der Austausch festgefahren hat bzw. im Kreis dreht oder man gerade nicht weiterkommt,
- um bewusst auf das zu hören, was noch nicht gehört wurde (leise Stimmen, fehlende Aspekte, Verstecktes, Zögerliches) und um denen eine Chance zu geben, die noch nichts gesagt haben – Nach der Stille kann bewusst eingeladen werden: Jetzt hören wir zuerst auf die, die dazu noch gar nichts gesagt haben, vorausgesetzt sie möchten etwas sagen.
- wenn sich der Austausch so verdichtet hat, auch atmosphärisch, dass das Bedürfnis nach einer „Verdauungs- bzw. Wirkungspause“ entsteht.
Nach Gesprächen,
- um das Besprochene, die Vielfalt, das Ergebnis, die Schlussfrage etc. nachklingen zu lassen; um sich bewusst zu machen, was im Laufe des Gesprächs gewachsen ist und geerntet werden kann.
Mit dem Herzen auf die Sehnsucht hören
Die Sehnsucht als Kraftquelle zu entdecken ist für Teams und Gremien sehr bereichernd. Denn in ihrem Engagement liegt sie oft nicht obenauf und könnte doch das Nachdenken und das Miteinander beleben, wenn sie bewusster einbezogen ist. Die Aufmerksamkeit auf die Sehnsucht zu richten, „zahlt“ sich auch im Tagesgeschäft aus. Es gibt den anschließenden Gesprächen und Diskussionen eine andere Qualität. Deshalb stellen wir hier eine kleine Methode vor, mit der wir häufig arbeiten. Und die – mit etwas Gruppenerfahrung und -gespür – leicht eingesetzt werden kann. Wir nennen sie: Mit dem Herzen auf die Sehnsucht hören.
„Was ist meine (größte) Sehnsucht für mein Engagement?“, ist die bestimmende Frage in diese Methode. Und sie kann variiert werden: „Was ist meine größte Sehnsucht für meine Aufgabe in diesem Unternehmen, in diesem Projekt?“ „Was ist meine Sehnsucht für meinen Aufgabe als Kirchenvorsteher/Presbyterin für die neue Wahlperiode?“ „Was ist meine größte Sehnsucht in meiner Aufgabe/in der vor uns liegenden Herausforderung als Regionalbischöfin/als Abteilungsleiter im Landeskirchenamt?“
Eine solche Frage braucht ein anderes Setting als die normale Debatte. Mit der Frage nach der Sehnsucht ist etwas Persönliches, vielleicht auch Verletzliches berührt. Dafür braucht man einen sicheren Raum und Vertrauen (vgl. dazu unten die „Vereinbarungen und Haltungen im Kreis“). Deshalb besprechen wir das in der Regel auch nicht im Plenum, sondern in 3er-Gruppen. Dann kann sich jede und jeder mit zwei Menschen zusammensetzen, zu denen ein Grundvertrauen da ist. Und natürlich entscheidet jede Person, wie viel er und sie aus dem eigenen Inneren zeigt.
Da die Frage für viele eher ungewöhnlich oder ungeübt ist, braucht es ein bisschen Zeit, um nicht nur das zu empfinden und zu sagen, was einem als Erstes einfällt. Deshalb schenken wir der Gruppe drei Minuten Stille, am Anfang und Ende begrenzt durch einen Klang. Im Zwischenraum zwischen den Klängen fallen keine Worte, sodass die Einzelnen frei sind, ihren Gedanken nachzugehen, ohne unterbrochen zu werden. Also: Nach einer kleinen Hinführung: Drei Minuten Stille für die Frage: „Was ist meine (größte) Sehnsucht für…?“
Danach kommt kein Austausch im Plenum, sondern eine Einladung zu 3er-Gruppen, um mit dem Herzen zu hören. Manchmal sagen wir auch: Einander das Herz zu leihen. Das geht so: Eine Person erzählt drei bis fünf Minuten von der eigenen Sehnsucht. Dabei wird manches gesagt werden, was die Person selbst überrascht. Sie spürt im Reden z.B. wie sehr sie etwas tatsächlich berührt oder bewegt. Oder wie viel Energie darin steckt. Und weil wir selbst immer nur begrenzt sehen können, „leihen“ die anderen ihr Herz, oder: Sie hören mit dem Herzen. Wenn die erste Person zu Ende gesprochen hat, geben sie eine Resonanz, etwa so: „Wenn ich mit dir mit-spüre, empfinde ich …“ Jegliche Kommentare im herkömmlichen Sinn, Bewertungen und Beurteilungen oder gar zynische Bemerkungen haben hier keinen Platz. Voraussetzung ist, dass ein gewisses Maß an Vertrauen vorhanden ist. Und dass die „Vereinbarungen und Haltungen im Kreis“ (s.u.) oder Ähnliches die Grundlage für diesen Austausch ist. Wenn die Resonanzen zur ersten Person geteilt sind, kann ein Moment Stille sein, bevor die nächste Person in der beschriebenen Weise von ihrer Sehnsucht erzählt. Darauf geben die anderen beiden Resonanzen aus ihrem Herzen. Es folgt die dritte Person. Bewährt haben sich ca. 7-8 Minuten Zeit pro Person (Erzählen plus Resonanzen), also ca. 25 Minuten insgesamt für die Dreier-Gruppe.
Anschließend wird das persönlich Geteilte nicht in das Plenum eingebracht. Vertraulichkeit ist Voraussetzung und wird zu Beginn vereinbart. Die Gruppe kann einander aber gut etwas mitteilen über ihre Entdeckungen beim Hören und beim Reden. Dann spricht jede/jeder nur über die eigenen Entdeckungen im Prozess. Zum Beispiel: „Als ich selbst erzählt habe, hat mich überrascht…“ Oder: „Beim Zuhören musste ich immer wieder dem gewohnten Reflex widerstehen, etwas zu raten oder zu fragen. Das war ein bisschen anstrengend. Aber als ich selbst erzählt habe, fand ich’s gut, dass ich mal in Ruhe ausreden konnte.“ Oder: „Ich habe gemerkt: Mit dem Herzen hören. Das wünsche ich mir öfter. Da tauchen noch andere Aspekte auf, die ich sonst übersehen würde. Gerade zu unserem Thema ist mir noch einiges bewusst geworden…“
Ein solcher Rückblick auf das Geschehen kann die Verbundenheit der Gruppe stärken, ohne dass sich die einzelnen persönlich für alle öffnen müssen.
Vereinbarungen und Haltungen im Kreis und schöpferische Dialoge
Dieses Tool beschreiben wir, um eine Vorstellung zu geben, wie Vertrauensräume aufgebaut werden können und wie leerer Raum für neue Ideen entstehen kann. Für die Durchführung sind Menschen wichtig, die eine gewisse Übung in schöpferischen Dialogen (Circle, Council etc.) und entsprechende Achtsamkeit für mögliche Klippen haben.
Eine Schlüsselerfahrungen und -überzeugung verbindet uns mit vielen Prozessgestalterinnen und -gestaltern: Prozesse, in denen sich Menschen öffnen, in denen nicht nur Argumente ausgetauscht, sondern auch etwas vom eigenen Herzen eingebracht wird, solche Prozesse brauchen einen besonderen Schutz. Deshalb beginnen wir fast jeden Prozess und die Fortbildungsgruppen mit diesen Vereinbarungen und Haltungen aus der Circle-Arbeit:
- Persönliche Informationen sind vertraulich.
- Wir hören einander aufmerksam und mitfühlend zu und urteilen nicht.
- Wir achten darauf, zum schöpferischen Prozess der Gesamtgruppe beizutragen.
- Wir bitten um das, was wir brauchen, und geben, was wir können.
- Von Zeit zu Zeit halten wir inne und richten unsere Gedanken und Aufmerksamkeit aufeinander und auf Gott/auf unsere Quellen… wieder neu aus.
1. ist manchmal selbstverständlich. Und doch braucht es immer wieder eine Erinnerung. 2. meint: Wir sortieren das Gehörte nicht einfach nur in das ein, was wir schon kennen. Auch nicht in das, was wir von der anderen Person kennen, mit der wir vielleicht schon Jahre unterwegs sind. Wir hören aufmerksam heißt auch: Wir beschäftigen uns nebenbei nicht mit anderen Dingen, einer Email, chatten nicht parallel mit einigen. – „Die Qualität der Ergebnisse hängt unmittelbar ab von der Qualität der Aufmerksamkeit aller Akteure“, resümiert Otto Scharmer, nachdem er viele erfolgreiche Unternehmen zu ihrer Herangehensweise befragt hat. – So schlicht dieser Satz ist, so wirkungsvoll ist er auch: „Wir hören einander aufmerksam zu und urteilen nicht.“ Zum zweiten Teil des Satzes könnte man etwas vorsichtiger auch sagen: Wir stellen die Urteile und Bewertungen, die in uns aufsteigen, für den Moment einmal zurück. Wir „halten unsere Annahme in der Schwebe“ (David Bohm). In der Gegenposition könnten auch Wahrheitsmomente liegen. In ihr könnte etwas verborgen sein, was für eine Lösung wichtig ist und das sich noch zeigen wird … 3. trägt zur Fokussierung der Gruppe bei. Als Teilnehmer/-in am Gespräch plaudere ich nicht einfach drauflos. Ich halte mich auch nicht grundsätzlich zurück, sondern frage mich vielmehr: Ist mein Beitrag jetzt gut? Bringt er die Gruppe weiter? Vielleicht passt er später noch besser. Oder andere werden auf ihre Weise einbringen, was mir wichtig ist. 4. macht deutlich, dass die Gruppe gemeinsam Verantwortung trägt: Jede und jeder kann etwas beitragen. Und soll das auch tun. Und niemand kann alles. Deshalb gilt auch: Ich bitte um das, was ich brauche. Vollständige Informationen zum Beispiel. Oder: Die Aufmerksamkeit der anderen. Punkt 5. weist darauf hin, dass in den Beratungen immer mal wieder ‚angehalten‘ werden kann für eine Stille von 1-3 Minuten. Jede und jeder im Kreis kann sich diese Stille wünschen. Dadurch haben alle in der Runde die Chance, zu spüren, was sie bewegt in Gedanken und Gefühlen. Und welche leisen Stimmen und Eindrücke sich, auch in der Stille, melden.
Diese „Vereinbarungen und Haltungen im Kreis“ kann ein Team oder Gremium als Grundlage nehmen, wenn es sich darüber verständigen will, welche Bedingungen sie für ein gutes Miteinander brauchen. Die fünf Sätzen können ergänzt oder geändert werden, je nachdem, was die Gruppe für sich braucht. Der Effekt ist: Alle im Kreis übernehmen ihren Teil der Verantwortung für eine Atmosphäre, die Vertrauen ermöglicht. Und wenn die Vereinbarungen und Haltungen im Laufe des Prozesses oder in der „Hitze des Gefechts“ mal aus dem Blick geraten, erinnert jemand freundlich an sie.
Auf diese Weise schützen alle Beteiligten einen offenen Raum für ein ko-kreatives Miteinander und setzen Energie und Ideen frei, die für nachhaltige Lösungen erforderlich sind.
Ko-kreative Prozesse brauchen Freiheit, um das, was noch niemand kennt, zu finden und zu empfangen. Diese Methode ist überall da sinnvoll, wo nicht am gleichen Tag oder Abend noch eine Entscheidung getroffen werden muss. Voraussetzung ist, dass Grundvertrauen in der Gruppe vorhanden ist. Wenn das nicht der Fall ist und z.B. Konflikte in einer heißen Phase sind, wenn die Sorge besteht, dass sie „hochkochen“ … oder wenn viele – aus welchen Gründen auch immer – nur mit angezogener Handbremse mitmachen, sind andere Methoden angezeigt, z.B. aus der Mediation.
Mehr Infos findest du hier: