Ob im Morgengrauen auf dem Gipfel oder beim Schweigen in der Gruppe – wer sich in den Bergen auf den Weg macht, spürt oft mehr als nur Muskelkater. Pfarrer und Bergführer Harald Sauer erzählt, warum die Natur ein spiritueller Resonanzraum ist, was junge Menschen beim Wandern verwandelt und warum Kirche mehr Mut zum Berg zeigen sollte.
Herr Sauer, Sie sind schon fast Ihr ganzes Leben in den Bergen unterwegs. Was macht die Berge für Sie zu einem besonderen Ort der Gottesbegegnung?
In den Bergen spüre ich immer wieder: Wenn sich der Körper bewegt, bewegen sich auch Geist und Seele. Die Natur mit ihrer unberührten Kraft berührt uns auf einer existenziellen Ebene. Gerade wenn Menschen gemeinsam unterwegs sind – egal ob jung oder alt – tritt vieles zutage, was im Alltag verborgen bleibt. Gespräche entstehen wie von selbst, und persönliche Fragen kommen ins Rollen.
Die Berge lehren mich Demut. Ich bin Teil eines größeren Ganzen.
Ich bin gern allein in den Bergen, aber die Erfahrung in einer Gruppe unterwegs zu sein, ist ganz besonders: Wenn sich plötzlich der Nebel lichtet oder der Nachthimmel sich über einem aufspannt, dann ist das überwältigend – es ist schön, diese Momente mit anderen zu teilen.
Gab es ein prägendes Erlebnis, das Ihre Sicht auf Spiritualität in den Bergen geformt hat?
Vor allem die frühen Aufbrüche, wenn man im Morgengrauen von der Hütte losgeht, die ersten Sonnenstrahlen das Tal erreichen und man spürt, welche Kraft in der Natur steckt, sind immer wieder ganz besondere Erfahrungen. Da kommt Demut auf. Man wird still und erkennt: Ich bin Teil eines größeren Ganzen.
Sie leiten auch Touren mit Jugendgruppen. Was erleben Sie da?
Jugendliche halten im Alltag vieles auf Abstand. Aber draußen in der Natur passiert oft etwas: Sie lassen sich ein, übernehmen Verantwortung, unterstützen einander ganz selbstverständlich. Wenn einer mit dem Rucksack zu kämpfen hat, sehen das die anderen und ohne großes Gerede wird umgepackt und geholfen. Da muss der Leiter gar nichts sagen. Es ist schön zu sehen, wie sich Gemeinschaft einfach so entwickelt.
Welche Rituale finden unterwegs ihren Platz?
Auf einem Weg gibt es immer wieder kleine Unterbrechungen, die man bewusst gestalten kann: Wenn wir zum ersten Mal ein Tal überblicken können oder eine Wegmarkierung schwer zu finden ist. Solche Momente laden ein, auch über das eigene Leben nachzudenken. Am Gipfel sind wir oft einfach still. Da stellt sich die Frage: Werde ich leer oder taucht etwas auf, das lange keinen Raum hatte? Ich finde es wichtig, dass nicht nur der oder die Leitende Impulse gibt. Jede und jeder soll mit dem kommen dürfen, was ihn oder sie bewegt.
Erleben auch Menschen ohne expliziten Glaubensbezug die Berge als spirituellen Ort?
Unbedingt. Wenn man den ganzen Tag gemeinsam unterwegs war, fällt vieles ab – soziale Rollen, Zurückhaltung. Am Abend kommen dann erstaunlich persönliche Gespräche zustande. Die Natur bringt das in Gang.
Sie bilden auch Menschen aus, die selbst spirituelle Bergtouren anleiten wollen.
Ja, die Ausbildung dauert eineinhalb Jahre. Sie qualifiziert dazu, eigene Gruppenangebote im kirchlichen oder sozialen Kontext durchzuführen. Unser Ausbildungsteam ist ökumenisch und auch die Teilnehmenden kommen aus ganz unterschiedlichen Hintergründen. Im letzten Jahrgang waren es 20 Personen – im Herbst startet der nächste Kurs.
Wenn sich der Nebel lichtet oder der Nachthimmel über einem aufspannt, ist das überwältigend.
In der Ausbildung geht es um praktische Inhalte: Wie führe ich eine Gruppe unterwegs am Berg? Wie eigne ich mir Kenntnisse über die Biodiversität in den Bergen an. Wie gebe ich sie weiter? Welche sichtbaren Spuren des Klimawandels entdecke ich? Es geht auch um persönliche Themen: Welche Fragen bewegen mich? Wie entwickle ich meine spirituellen Impulse? Welche Themen gibt der mich umgebende Natur- und Schöpfungsraum der Berge dafür vor. Am Ende plant jede und jeder eigene Bergtage, die gemeinsam mit einer Übungsgruppe durchgeführt werden.
Was möchten Sie den Teilnehmenden geistlich mitgeben?
Dass sie lernen, ihre eigene Sehnsucht und ihre Fragen so zu formulieren, dass andere sich eingeladen fühlen, sich gemeinsam auf den Weg zu machen. Es geht nicht darum, fertige Antworten zu geben, sondern offen zu sein für das, was unterwegs geschieht.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Bergspiritualität in der Kirche?
Ich wünsche mir, dass wir als Kirche die Menschen dort abholen, wo sie unterwegs sind – am Wochenende, im Urlaub, auf einem Ausflug. Unterwegs gibt es so viele ‚Tür-und-Angel-Gespräche‘, die sollten wir als Kirche nicht verpassen. Warum nicht eine Berghütte pachten, Gruppenangebote machen oder ein Selbstversorgerhaus einrichten? Das sind Begegnungsmöglichkeiten, die man nutzen kann. Die Natur ist ein Raum, in dem sich Menschen öffnen. Und ein Raum, in dem sich Gott auf ganz eigene Weise zeigt.