So wie Gewichte stemmen den Körper trainiert, sind Exerzitien Übungen für den Geist. Dafür braucht es kein spezielles Setting, aber die Bereitschaft Gott wirken zu lassen, erklärt Pfarrer Ralph Thormählen.
Herr Thormählen, Exerzitien sind geistliche Übungen – also ein Weg, den Glauben einzuüben. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?
Ja, das ist ein Paradox, denn Gott und der Heilige Geist sind unverfügbar, die können wir nicht herbeiüben. Wir können nur üben empfangsbereit zu sein.
Üben klingt aber erstmal anstrengend.
Das ist wie beim Sport oder beim Üben eines Instruments. Zum Spielen brauche ich eine gewisse Fertigkeit. In den Exerzitien trainiere ich, mich zu öffnen, aber letztendlich ist es die Erfahrung, dass ich geöffnet und beschenkt werde. Es ist wie eine simulierte Wüste – ich gehe in eine Gegend, wo wenig ist außer Gott, der Heilige Geist und ich. Das kann schon anstrengend sein, weil ich Themen in mir begegne, von denen ich mich im Alltag viel leichter ablenken kann.
Dass ich mich freundlich anschauen lasse und mich selber freundlich anschaue, braucht eine gewisse Anstrengung.
Die Frage ist, wie ich damit umgehe. Wenn ich dagegen kämpfe, ist es mühsam. Wenn ich aber lerne, dass auch das Unangenehme da sein darf und damit einen Umgang finde, wird es leichter. Dass ich mich freundlich anschauen lasse und mich selbst freundlich anschaue, braucht eine gewisse Anstrengung – aber es kann einen superschönen Gewinn haben: Die Erfahrung, dass ich mit Haut und Haar so sein darf, wie ich bin, angenommen und geliebt.
Wie sieht das denn praktisch aus?
Exerzitien gibt es in unterschiedlichen Formen. Entweder man zieht sich für einen festgelegten Zeitraum in die Stille zurück. Das geht in einer Gruppe oder allein. Klassischerweise gibt es dann jeden Tag einen Text als Impuls – diesen meditiere ich und versuche, ihn wirklich an mich heranzulassen und zu schauen, wo es mich trifft und wo meine Widerstände sind. Ich gehe mit diesen Texten einen Weg und tausche mich mit einer Begleitperson darüber aus.
Es geht um Beziehungsfähigkeit in allen Dimensionen – mit mir selber, mit Gott, mit der Welt. Mit all dem Leichten und Schweren im Leben.
Es gibt aber auch Alltagsexerzitien, bei denen man sich einmal die Woche trifft, in einer Gruppe austauscht und einen Impuls zum Üben bekommt. Es gibt ganz verschiedenen Arten mit Gott in Kontakt zu sein. Beim Herzensgebet versucht man in der Stille, im Gebet, im Hier und Jetzt zu sein und in die Gegenwart Gottes zu kommen. Es gibt aber auch Bibliodrama-, Wander- oder Kinoexerzitien und vieles andere.
Es gibt also kein festgelegtes Setting?
Nein, denn es geht letztendlich um das Einüben einer Haltung und das kann ich beim Schwimmen im See, wenn ich auf einem Kissen sitze oder in der Bibel lese.
Welche Voraussetzung sollte ich denn mitbringen?
Die Voraussetzung ist vor allem, dass ich eine Sehnsucht habe – nach mehr Tiefe, nach mehr Begegnung, mehr Ich selbst zu sein oder nach mehr Kontakt mit Gott. Und die Bereitschaft, mich überraschen zu lassen.
Wem würden Sie Exerzitien empfehlen?
Jedem, der sich in einer vertieften Weise mit dem Glauben auseinandersetzen will und dabei sich selbst und Gott begegnen möchte.
Die Tradition ist sehr alt – sie lässt sich zurückführen auf Ignatius von Loyola, den Begründer der Jesuiten. Der war Soldat und lebte Ende des 15. Jahrhunderts. Ist das Format heute noch zeitgemäß?
Die Jesuiten haben diese Praxis in ihrem Orden lebendig gehalten und immer wieder aktualisiert. Und viele andere christliche Kirchen und Gemeinschaften haben diese Einübung ins Gebet für sich angepasst und übernommen. Die Form ist sehr offen und passt gut auch in die heutige Zeit. Bei Straßenexerzitien zum Beispiel – da ist das Großstadtgetümmel der Ort der Begegnung mit mir, mit anderen und mit Gott. Das ist extrem zeitgemäß, weil man mitten in der Welt ist.
Also kreise ich gar nicht nur um mich selbst?
Dieses Missverständnis, dass es sich um eine spirituelle Nabelschau handelt, bei der es nur um das eigene Wohlergehen geht, gibt es immer wieder. Aber selbst, wenn ich allein irgendwo bin, gehören meine Beziehungen, meine Träume und Konflikte oder mein soziales Umfeld zu mir dazu. In Exerzitien kann ich mich auf neue Art und Weise der Welt, der Schöpfung und der Gesellschaft öffnen. Es geht um Beziehungsfähigkeit in allen Dimensionen – mit mir selbst, mit Gott, mit der Natur. Mit all dem Leichten und Schweren in unserem Leben. Das widerspricht sich nicht, sondern gehört zusammen, weil wir Menschen sind, die in vielfältigen Bezügen leben.