Foto: Diego Delso, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25421006

Stille im Trubel

von Julia Spliethoff

Mitten in der Nürnberger Altstadt öffnet die gotische Lorenzkirche einen Raum der Ruhe und Besinnung. Ein Besuch zeigt, wie dieser besondere Ort, erfüllt von Licht und Geschichte, dem Alltag eine Pause abringt.

„In Nürnberg steht eine wunderbare Kirche mitten in der Stadt,“ schwärmt Andrea Felsenstein-Roßberg, als ich sie im Gespräch nach einem Kirchenraum frage, der für sie besonders ist. Sie muss es wissen, denke ich, denn mein Gegenüber ist Referentin für Kirchenraum und Spiritualität sowie Kirchenpädagogin. Sie bildet zudem Kirchenführer:innen in der Region aus. So beschließe ich, die St. Lorenzkirche in Nürnberg selbst einmal zu besuchen.

Ein Ort der Einkehr

An einem sonnigen Herbsttag bietet sich mir die Gelegenheit zu einem Zwischenstopp – nach einem zehnminütigen Fußmarsch vom Hauptbahnhof stehe ich im Herzen der Nürnberger Altstadt. Auf dem Platz vor der Kirche herrscht reges Treiben. Menschen mit Sonnenbrillen auf den Nasen ziehen fröhlich plaudernd vorbei. Andere tragen schnellen Schrittes ihre Einkaufstauschen heim. Doch sobald ich die Schwelle der Lorenzkirche überschreite, scheint es, als trete ich in eine andere Welt. Das Lärmen bleibt draußen. Vor mir breitet sich das gewaltige Kirchenschiff aus – 90 Meter lang und 30 Meter hoch, wie ich gelesen habe. Das Innere der über 700 Jahre alten Kirche ist ein Schatz an Stadt- und Kirchengeschichte. Der Engelsgruß, ein Kranz mit vergoldeten Figuren, zeigt Maria und den Erzengel Gabriel bei der Verkündigung. Mein Blick wandert weiter zu dem farbigen zehn Meter langen Eichbogen, der die Kirchenmitte wie ein Regenbogen überspannt und alle, die hier verweilen, mit einer leisen Hoffnung erfüllt. Hier kann man eine Kerze entzünden und seine Liebsten im Gebet Gott anvertrauen.

Raum für alle Fragen

In meinem Ohr klingt die Stimme der Expertin nach: „Der Raum hält alles zusammen. Und der Raum hält alle aus, die ihn aufsuchen.“ Auch mich, mit meinem großen Rucksack, der endlosen To-do-Liste und den vielen kleinen und großen Fragen im Gepäck. Langsam verstehe ich, was Frau Felsenstein-Roßberg und die anderen Besucher:innen an diesem Ort so fasziniert. Dies ist ein Raum, in dem seit Jahrhunderten Menschen ihre Klagen und Hoffnungen vor Gott bringen.

Einfach da sein

Auch wenn ich grundsätzlich Luthers Überzeugung teile, dass man überall Gottesdienst feiern kann, spüre ich die besondere Ruhe, die dieser Raum ausstrahlt. „Ich glaube, Gott braucht kein Haus aus Stein,“ hat mir Andrea Felsenstein-Roßberg zuvor erklärt, „aber Menschen brauchen einen Ort, an dem sie zu sich kommen können. Wo sie Platz nehmen, durchatmen und einfach da sind.“ Es sei der Moment, in dem man ganz bei sich sei, in dem auch die Möglichkeit der Gotteswahrnehmung entstehe – ein Zwiegespräch oder ein gemeinsames Schweigen. Genau das spüre ich jetzt.

Wenn Licht zum Zeichen wird

Auch das Licht wirkt hier anders. Es ist ein zentrales Element in dieser hochragenden gotischen Kirche. Wenn die Sonne durch die Fenster scheint, verwandeln sich die steinernen Wände in ein buntes Farbenspiel und lassen etwas Überirdisches erahnen. Doch je länger ich in der Kirche umherwandere, desto mehr merke ich, wie vieles mir fremd bleibt. Mir fehlt eine Übersetzung für das, was ich sehe – nicht nur eine historische Einordnung, sondern jemand, der mir die Themen hinter dem Offensichtlichen erklärt und mir zeigt, was sie mit meinem Leben zu tun haben. Genau dafür bildet Andrea Felsenstein-Roßberg ihre Kirchenführer:innen aus.

Heilig oder heilsam?

Ob so ein Kirchengebäude „heilig“ ist oder nicht, darüber gibt es in den Konfessionen unterschiedliche Vorstellungen. Während die katholische Kirche den Kirchenraum als heiligen Ort versteht, in dem Christus in Form der geweihten Hostie anwesend ist, sehen Protestanten den Kirchenraum nicht per se als heilig an – doch seine Wirkung kann heilsam sein.

Ein Moment der Stille

Am Ende meines Besuchs zünde ich eine Kerze an, als hätte der Ort mich selbst in eine unerwartete Stille geführt. Andrea Felsenstein-Roßbergs Worte begleiten mich auf dem Weg hinaus: „Manchmal brauchen wir einen besonderen Raum, um uns wieder mit uns selbst und dem, was uns wirklich bewegt, zu verbinden.“ Und genau solche Gebäude wie die Lorenzkirche bieten uns diese Möglichkeit – Orte, an denen man kurz innehalten, durchatmen und vielleicht sogar ein wenig Frieden finden kann.

Julia Spliethoff

Julia Spliethoff ist Redakteurin und als Westfälin sehr selten in Bayern unterwegs. Nach ihrem Stopp in Nürnberg hat sie sich vorgenommen nun viel öfter in den Süden zu reisen.

Foto: Susan Lampart

Ich trete über die Schwelle und bin in einer anderen Welt, in einer oft fremden Welt. So fühlt es sich an.

Manche Erfahrungen lassen sich nicht in Worte fassen, weil sie eine tiefere Wirklichkeit berühren.