Pfarrerin Anne Mayer-Thormählen erklärt, wie Seelsorge und Geistliche Begleitung Menschen unterstützen können – in Krisen, im Alltag und auf der Suche nach spiritueller Tiefe.
Wie sieht ein gutes Seelsorge-Gespräch aus?
Ich bin immer dann zufrieden, wenn jemand eine Spur entdeckt hat, wieder mehr mit sich selbst in Kontakt gekommen ist oder etwas gelöst wurde. Als Seelsorgerin versuche ich einen Raum zu schaffen, der nicht mit mir gefüllt ist. Ein Raum, in dem mein Gegenüber auf eine Forschungsreise treten kann und mit sich selbst in Berührung kommt. Wenn mein Gegenüber wieder ein bisschen mehr Liebe und Vertrauen gewonnen hat, bin ich glücklich.
Sind Seelsorge und Geistliche Begleitung das gleiche?
Bei der Geistlichen Begleitung geht es eher darum, dass Menschen ohne ein akutes Problem kommen, sondern den Wunsch haben, ihren Alltag im Licht Gottes zu entdecken. Sie möchten die Tiefendimension im Leben stärker spüren. Oder sie haben praktische Anliegen, weil sie Anleitung für das Gebet oder die Meditation suchen. Für mich heißt Geistliche Begleitung, eher Seelenhygiene zu betreiben und einen Raum zu haben, wo man sich sortieren kann.
Inwiefern kann Seelsorge ein Weg sein, Gott zu erleben oder eine spirituelle Verbindung zu stärken?
Wenn Menschen mir beschreiben, was sie begeistert oder woraus sie Kraft schöpfen, und ich das Gotteserfahrung nenne, ist das Erstaunen oft groß. Darüber kann man ins Gespräch kommen – muss man aber nicht.
Gibt es besondere Momente oder Anlässe, bei denen die Menschen sich Segen erbitten?
Der Wunsch nach Segen kommt oft, wenn große Veränderungen bevorstehen. Für mich ist der Segen ein Schatz, weil einer Person individuell zugesprochen wird, dass sie ein Geschöpf Gottes ist – dass sie gemeint, geliebt und gesehen ist. Ich glaube, das ist etwas, wonach wir uns alle zutiefst sehnen, weil wir oft nicht glauben können, dass das wirklich wahr ist.
Wie wirkt sich dieses Ritual auf Sie als Segnende aus?
Es macht mich glücklich. Oft staune ich, weil ich das Gefühl habe, verbunden zu sein mit einer Kraft, die durch mich durchfließt. Dann kommen die Worte manchmal ganz anders aus meinem Mund, als ich sie erdacht habe. Zu sehen, wie ein Mensch dadurch aufblüht, ist schön und es verbindet uns.
Lernen Sie durch ihre Arbeit als Seelsorgerin etwas Neues über Gott?
Ich lerne immer wieder, dass Gott viele verschiedene Sprachen spricht und so viele Wege kennt, um Menschen zu erreichen. In der Natur, durch Kunst, über Podcasts oder durch diese eine Liedzeile. Es geht immer um diese Momente, die ins Herz gehen und Verkrustetes aufbrechen lassen – die so eine Ahnung wecken, dass da mehr sein könnte. Dass Menschen das Gefühl bekommen, dass Gott sie nicht vergisst und dass er sie begleitet über das Gespräch hinaus.
Welchen aktuellen Herausforderungen muss sich die Seelsorge stellen?
Ganz viele Menschen leiden unter Einsamkeit. Wenn ich zuhause nicht rede, heißt das nicht, dass ich eine heilsame Stille erfahre. Dazu anzuleiten und Menschen eine Ahnung zu geben, wie sie in der Stille Gott finden können, das kann eine wichtige seelsorgerliche Aufgabe sein. Die Situationen, in denen wir als Seelsorgende wirken, sind äußerst vielfältig. Dort wo ich gerade arbeite, ist noch viel Kirchlichkeit im Hintergrund. Da kann ich mit traditionellen Ritualen wie Gebet und Segen arbeiten. Gesamtgesellschaftlich bricht das aber immer mehr weg – da brauchen Menschen zeitgenössische Rituale, durch die sie erkennen, dass Gott ihre Sprache spricht. Das leisten vor allem Klinik- und Altenheimseelsorger:innen, die die Menschen aufsuchen und nicht danach fragen, wer welchen Hintergrund mitbringt. Erst vor Kurzem war ich auf einer Seelsorgetagung, wo Erfahrungen ausgetauscht wurden. Eine Seelsorgerin erzählte, dass sie sich angewöhnt habe, die Menschen bei der Verabschiedung zu fragen, ob sie anschließend in der Kapelle für sie beten dürfe. Wenn das verneint wird, fragt sie nach der Lieblingsfarbe ihres Gegenübers und verspricht, eine Schleife in der entsprechenden Farbe in einen dafür vorgesehenen Baum zu hängen. Dieses Ritual hat uns alle unmittelbar angesprochen, da es signalisiert: Du bist gemeint und wirst erinnert – über das Gespräch hinaus.