Beim Pilgern kann mehr als die Füße in Bewegung geraten. Im Interview erklärt Michael Kaminski, Pilgerbeauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayern, warum das Unterwegssein uns verändert, welche Bedeutung die Gemeinschaft dabei hat und wie dieser uralte Brauch seinen Platz in der Moderne findet.
Inwiefern unterscheidet sich das Pilgern vom einfachen Wandern?
Von außen sieht es gleich aus, aber es kommt beim Pilgern auf den inneren Prozess an. Beim Wandern genieße ich die Bewegung in der Natur – beim Pilgern dienen die Natur und die Bewegung als Unterstützung für einen inneren Prozess. Die Motivation, sich auf den Weg zu machen, ist beim Pilgern in der Regel eine Suche oder ein Umbruch, viele haben ein inneres Thema. Und entsprechend wird man den Weg und die Begegnungen auf dem Weg anders wahrnehmen.
Pilgern ist also eine persönliche Reise. Ist es überhaupt möglich, das in einer Gruppe zu erleben?
Allein zu pilgern ist schon besonders schön und wirkungsvoll, weil man leichter zu sich findet. Trotzdem gibt es auch eine lange Tradition von Pilgergemeinschaften. Es kann auch unterstützend sein, mit einer Gruppe von Menschen unterwegs zu sein, die alle das gleiche Thema bewegt.
Zum Beispiel?
Nehmen wir das Thema Trauer. Als Pilgerbegleiter bin ich einmal im Jahr mehrtägig mit Trauernden unterwegs: alle, die dort sind, wissen, wie es sich anfühlt, wenn man jemanden durch Tod verloren hat. Unterwegs lernen sie, mit ihrer Trauer besser umzugehen, sie als zwar schmerzhafte, aber hilfreiche Lebensenergie wahrzunehmen. In so einer Gruppe haben wir oft nach einer Stunde bereits Gesprächssituationen, in denen eine große Intimität entsteht.
Was halten Sie von Pilgern als Touristenattraktion? Die Medien berichten von überlaufenen Wegen und Partypilgern.
Ich habe dieses Jahr wieder nachgesehen: so viele sind es gar nicht! Wenn ich offen dafür bin, dass die anderen Menschen nicht nur eine störende Menge, sondern Individuen sind, die jeweils ein eigenes Thema haben, kann ich damit anders umgehen, als wenn ich genervt bin von dem Trubel.
Ich habe gemerkt, dass ich es allein nie schaffen werde und auch nicht muss.
Ich versuche, jeden Menschen auf dem Weg als Geschenk zu verstehen. Ist man kein richtiger Pilger, wenn man mal den Bus nimmt, den Gepäcktransport nutzt und nicht in Herbergen schläft? Man sollte mit Beurteilungen vorsichtig sein. Jeder muss seinen eigenen Weg finden dürfen.
Kann jeder Mensch auf eine spirituelle Weise pilgern?
Manche gehen als Wanderer los und kommen als Pilger an. Es gibt Menschen, die überhaupt nicht spirituell sind und unterwegs Erfahrungen von Nächstenliebe oder Gemeinschaft machen, die sie als Zeichen für ein spirituelles Geschehen werten. Andere wollen bewusst nicht spirituell unterwegs sein – Pilgerwege sind offen für alle.
Wie verändert sich das Pilgern in unserer modernen, digitalisierten Welt?
Als ich 2007 mit dem Pilgern angefangen habe, gab es viele Menschen, die kein Handy dabeihatten. Inzwischen ist fast niemand mehr ohne Smartphone unterwegs. Pilgerreiseführer, Karten oder Unterkünfte findet man heute leicht mit Apps. Früher ist man einfach hingegangen oder hat die Einheimischen gefragt, wo es zur Herberge geht. Man ist heute wegen der Sozialen Medien insgesamt weniger in Kontakt mit den Menschen um einen herum und mehr im Austausch mit anderen, die weiter weg sind.
Hat das denn auch Vorteile?
Es zwingt einen, im Prozess öfter Stellung zu nehmen. Wenn ich meinen Lieben zuhause jeden Abend erzählen soll, wie es mir geht, dann erzähle ich eben von Zwischenstationen und nicht den gesamten Bogen vom Ende her.
Was brauchen Menschen, um ihren Weg gut gehen zu können?
Sie brauchen offene Türen und offene Herzen am Wegesrand. Das ist auch ein Auftrag für uns als Kirche. Pilgernde bringen Segen ins Haus – und wer kann davon genug haben?
Wie fange ich an, wenn ich noch nie gepilgert bin?
Pilgern ist gerade deswegen so bestechend, weil es so einfach ist. Ich muss keine tolle Ausrüstung kaufen, um loszulegen. Ich kann bei mir zu Hause beginnen – in der Nähe gibt es sicherlich irgendwo einen markierten Pilgerweg. Ich denke, für Menschen von heute ist pilgern auch deshalb attraktiv, weil es einerseits sehr individuell ist, andererseits ist man Teil einer großen, unterstützenden Gemeinschaft.
Gibt es ein Erlebnis, dass Ihnen von Ihren vielen Pilgerreisen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Für mich war es wichtig, schon auf meinem ersten Weg von München zum Bodensee zu merken, dass ich die Unterstützung von anderen brauche. Ich hatte kurz vor dem Ziel Schmerzen im Bein und konnte nicht mehr laufen. Menschen haben mich mit dem Auto mitgenommen und zu meinem Ziel gefahren. Das war eine interessante spirituelle Erfahrung. Es hat mich demütig gemacht, nicht voller Stolz sagen zu können, dass ich den ganzen Weg aus eigener Kraft gelaufen bin. Ich habe gemerkt, dass ich es allein nie schaffen werde – und dass ich das auch gar nicht muss. Es gibt immer Hilfe am Wegesrand, und selbst Hape Kerkeling hat am Ende seines Buches „Ich bin dann mal weg“ festgestellt: „Ich habe jeden Tag Gott getroffen.“